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Gegenstrom Hamburg: Rückblick 2019 bis Sommer 2020

Im vorherigen Jahr 2019 geschah sehr viel in der weltweiten Klima(gerechtigkeits)bewegung, auch hierzulande. Neu hinzugekommene Akteur*innen wie u.a. Fridays For Future, Extinction Rebellion, Free The Soil, Sand im Getriebe, deCOALonize Europe haben hier mit dafür gesorgt, dass immerhin einige Aspekte der umfassenden öko-sozialen Zerstörungen und der damit verbundenen Ungerechtigkeiten in der Debatte des gesellschaftlichen Mainstreams angekommen sind.
Auch schon länger aktive Gruppen haben 2019 sehr viel gewuppt. Wobei wir es dann allerdings leider nicht mehr geschafft haben, unsere verschiedenen Aktivitäten zwischendurch auch noch einigermassen angemessen auszuwerten, geschweige denn auf unserer Website zu dokumentieren. Das möchten wir versuchen nachfolgend zumindest kurz in groben Zügen nachzuholen.

2019 – ein ereignisreiches Jahr auch für Gegenstrom Hamburg

Aus aktivistischer Perspektive startete das Jahr 2019 schon fulminant, nämlich mit einer ganztägigen Blockade und Stilllegung des Hamburger Kohle- und Erzhafens (auch Hansaport genannt, siehe Aktionserklärung und Twitter: @CoalShut. Die breites Presseecho auslösende Aktion war eine unmittelbare Reaktion auf die Tags zuvor erfolgte Veröffentlichung des Abschlussberichts der durch die Bundesregierung installierte „Kohlekommission“. Wie absehbar gewesen war, beinhaltete der Kommission-Bericht einen völlig inakzeptablen, sogenannten „Konsens“-Vorschlag, bei dem Energie-Konzerne bis 2038 durch Kohleverbrennung das schon jetzt fatal erhitzte Klima weiter schädigen dürfen und darüber hinaus auch noch viele Milliarden an sogenannten „Entschädigungen“ vom Staat erhalten.

Für ein starkes öffentliches VETO gegen diesen „Kohlekommissions-Kokolores“ gründete sich hier in Hamburg dann ein Bündnis diverser Klima(gerechtigkeits)-Gruppen, mit dem wir gemeinsam zu einer Vier-Finger-Sterndemo unter dem Motto „Klimarevolution“ am 15. März einige tausend Menschen auf die Strasse brachten. Hier unser Redebeitrag bei der Abschlusskundgebung.

Dieses Hamburger Bündnis war nur eines von mehreren, in denen wir 2019 aktiv waren. Zum Beispiel ist Gegenstrom Hamburg von Beginn an (2015) auch Teil von Ende Gelände. Im Mai 2019 fand ein Treffen von rund 300 Aktivist*innen dieses bundesweiten Bündnis in Hamburg statt, das wir mit vielen Menschen aus der Bewegung mit einer famosen Feier unseres 11. Geburtstags krönen durften. Ebenfalls im Mai haben wir uns an der Demo „Marsch gegen Bayer-Monsanto“ beteiligt und dort auch einen Redebeitrag gehalten, worin wir Zusammenhänge des heftigen Verlust der Bio-Diversität, industrieller Landwirtschaft, extremer sozialer Ungleichheit, Kapitalismus und weiterer spaltender Herrschaftsformen thematisierten.

An beiden Ende Gelände Aktionen in 2019 waren Aktivist*innen von Gegenstrom Hamburg beteiligt. Im Juni versuchten wir, mit dem pinken Finger an den Tagebau Garzweiler in NRW zu gelangen, was jedoch aus logistischen und repressiven Gründen scheiterte. Da das Camp aufgrund von willkürlich gesetzter polizeilichen Auflagen sehr weit vom Zielort entfernt lag, hätten wir mit 15 Bussen fahren müssen, was die Polizei entgegen gültiger Versammlungsgesetze verhindern konnte. Tröstlich war die Tatsache, dass alle anderen Finger an ihre Zielorte gelangten und die Aktion insgesamt ein voller Erfolg war, während die Polizei sich mit uns beschäftigte. Ende November ging es dann noch mit Ende Gelände in die Lausitz, wo wir gemeinsam für einen Tag die dortige Kohleinfrastruktur unterbrachen.

Den Sommer verbrachten einige Menschen mit Baden, zum Beispiel in Kiel. Am 9.Juni 2019 verhinderten dort Aktivist*innen des Aktionsbündnis Smash Cruiseshit für sechs Stunden das Auslaufen eines riesigen Kreuzfahrtschiffes. Mit mehreren Paddel- und Schlauchbooten sowie aufblasbaren Gummitieren oder gleich schwimmend fuhren Aktivistis mit Transparenten vor das abfahrtbereite Kreuzfahrtschiff. Außerdem kletterten Menschen in die Haltetaue, so dass diese nicht ohne weiteres gelöst werden konnten. Die Abschluss-Pressemitteilung zur Aktion gibt es hier. Besonders freut uns, dass seit der mit internationaler Berichterstattung einhergehenden Aktion das Thema Kreuzfahrt und seine verheerenden Auswirkungen auf Klima, Arbeitende, Ozeane und Anlauf-Orte eine zuvor nicht erreichte kritische Öffentlichkeit erfahren hat.

Gemeinsam mit hunderten Menschen haben wir uns im September an der widerständigen Massenaktion von Free The Soil https://freethesoil.org/de/startseite/ beteiligt. Dabei blockierten zwei recht internationale Finger die beiden Haupteingänge einer riesigen Kunstdünger-Fabrik des norwegischen, Konzerns YARA bei Brunsbüttel (80 km von Hamburg). Ziel der Free The Soil-Kampagne ist es, die verschiedenen durch industrielle Landwirtschaft verursachten ökosozialen Zerstörungen, u.a. deren Klimaschädigungen in den Fokus zu rücken. Einzelne von uns haben über Monate das sehr sympathische Agrar- und Klimagerechtigkeitscamp mit organisiert, das vom 19.-25. September mit vielen Bildungs-Workshops bezüglich Agrar-Fragen, mit Vernetzungen, Aktionstrainings, leckerem veganen Essen bei gutem Wetter und guter Stimmung ebenfalls in der Nähe von Brunsbüttel stattfand.

Die nächste Großaktion stand für uns dann schon nur 2 Wochen später an: die Aktionstage vom 4.-6. Oktober des Bündnis deCOALonize Europe https://decoalonize-europe.net/de/. In verschiedenen deutschen Orten fanden dabei parallel Protest- und Blockade-Aktionen gegen Steinkohle statt. Dieser Klimakiller wird seit einigen Jahren nicht mehr hier in Deutschland selbst abgebaut, sondern nun zu 100% aus Regionen in Russland, Kolumbien, USA oder Südafrika importiert. Dabei werden die Abbaugebiete durch riesige Tagebaue verwüstet und die dort lebenden Menschen erleiden massive gesundheitliche und öko-soziale Schäden, zusätzlich zu den Folgen der auch durch Steinkohle-Verbrennung erheblich weiter forcierten Klimaerhitzung. Die Kampagne deCOALonize Europe nahm insbesondere die neokoloniale Kontinuität der Steinkohle-Importe als ein typisches Beispiel imperialer Ausbeutung in den Fokus und ließ wenn immer möglich widerständige Menschen aus den Abbaugebieten sprechen.

In Hamburg haben wir es mit einem lokalen deCOALonize Europe-Bündnis geschafft, am 4. Oktober eine Blockade mit mehreren Hundert Menschen der Kattwykbrücke direkt am Steinkohlekraftwerk Moorburg zu realisieren. Diese große Hebebrücke konnte so nicht mehr hochgefahren werden, wodurch der Verkehr der großen Schiffe auf der Süderelbe und zugleich ein Teil des LKW-Verkehrs im Hamburger Hafen blockiert wurde. Mit heftigen Schmerzgriffen, hat die Pozzilei uns dann nach wenigen Stunden geräumt und etliche von uns die Nacht über festgehalten.

Zusätzlich zu den verschiedenen Aktionen haben wir jeden Monat eine Veranstaltung im Rahmen der Klimagerechtigkeits-Kneipe „Bechern statt Baggern“ zu jeweils unterschiedlichen Themen, Aktionen und Hintergründen in Sachen Klima- und sonstige Gerechtigkeit organisiert. Zu den Highlights gehörten dabei die Veranstaltungen zu „Klimawandel & Klasse“, zu „Fluchtursache Klimawandel ?!“, „Klimawandel und Rassismus“ in Verbindung mit einem zweitägigen Anti-Rassismus-Workshop, „Wissenschaftliche Aktionsforschung“, „We Don’t Shut Up – Solidarität mit #WeShutDown“ und last but not least ein famoses politisches Harry Potter Quiz im Dezember zum Jahres-Abschluss.

 

Versuch Auswertung und Neubestimmung Ende 2019 / Anfang 2020

Zum Ende 2019 haben wir dann versucht, gemeinsam auszuwerten, die Situation zu bestimmen und uns auf nachfolgende Projekte zu verständigen. Wir finden es toll, dass 2019 die Bewegung so stark gewachsen ist. Auch dass viele andere Themen jenseits der Braunkohle in den Fokus gerückt sind, freut uns sehr, denn so wird mehr als zuvor die generelle Destruktivität der jetzigen, kapitalistischen Verhältnisse deutlich.

Allerdings kann es ja aber kein dauerhafter Weg sein, für jede der zahlreichen thematischen Einzelbaustellen eine eigene Kampagne fahren zu müssen. Und über die verschiedenen Kämpfe gegen die Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlagen hinaus gibt es dann ja auch noch den ganzen anderen Mist von Herrschaft, Ausbeutung, Unterdrückung, Ausschluss: Klassenspaltung, Behindertenfeindlichkeit, Sexismus, Trans- und Homophobie, Rassismus, mörderische Abschottung gegen Geflüchtete, Antisemitismus, Neokolonialismus und vieles weitere mehr. Weil alle diese Kämpfe zusammen gehören, haben wir immer wieder auch Veranstaltungen gemacht und uns an Aktionen beteiligt, die über Klima- und sonstige Öko-Themen hinaus gehen. Auch bei der feministischen 8M-Demo in Hamburg 2020 haben wir daher einen Klimagerechtigkeits-Block mit organisiert und einen Redebeitrag  zu Zusammenhängen von Feminismus und Klimagerechtigkeit gehalten.

Der Gedanke drängt sich auf, dass nachdem hierzulande nun durch mehrere Hitzesommer und vielfältig erstarkter Klima(gerechtigkeits)-Bewegung zumindest die gesellschaftliche Wahrnehmung von Klima-Katastrophe und weiterer ökologischer Zerstörungen sich massiv verbreitert hat, unsere Haupt-Zielsetzung als Bewegung jetzt weiter gehen müsste. Nämlich nun konzentrierter darauf hin zu wirken, im allgemeinen Bewusstsein die drängende Notwendigkeit und bedingt auch vorhandene Möglichkeit eines grundlegenden befreienden Wechsels des Gesellschafts-Systems entscheidend auszuweiten. Denn nur mit einem solchen Wechsel ließen sich ja tatsächlich die verbliebenen Lebensgrundlagen erhalten und zumindest teils nach und nach wieder regenerieren. Zugleich ist ein solcher Wechsel notwendige Bedingung dafür, sehr viele der weiteren Formen von Herrschaft zu beenden.

Doch wie konkret könnte ein allgemeines System-Change-Bewusstsein in der gesellschaftliche Debatte wesentlich verbreitert werden? Mit welchen genaueren Inhalten und Erzählungen, mit welchen Bündnissen und konkreten Kämpfen? Und wo genauer wollen wir denn überhaupt hin, was ist unsere genauere Utopie und welche strategischen Konsequenzen hat das wiederum für die Wege dorthin? Ende März 2020 sollte zu dieser Art Fragen eine System-Change-Konferenz von Teilen der Klimagerechtigkeits-Bewegung in Marburg stattfinden, auf die wir uns gefreut hatten. Diese musste dann jedoch wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden, bzw. konnte nur eingeschränkt online stattfinden.

Um eigene Antworten auf diese Fragen zu finden und die Debatte innerhalb der Bewegung weiterzuführen, haben wir uns daher daran gemacht, über unsere Utopie nachzudenken und zu diskutieren. Wie müsste eine Welt, in der Klimazerstörung, Rassismus, Patriarchat und andere Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen nicht mehr möglich sind, aussehen? Idealerweise soll unser Ergebnis als Debattenbeitrag dann auch veröffentlicht werden.

Gleichzeitig wollen wir natürlich auch unseren aktivistischen Charakter nicht vergessen und waren auch 2020 schon bei mehreren Blockaden von fossiler Infrastruktur dabei.